Ein Projekt im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative
INTERREG IIIA Österreich-Italien 2002-2006
Franz von Ottenthal (1818-1899) führte zwischen 1847
und 1899 eine Praxis als Allgemeinarzt in Sand in Taufers,
dem Hauptort des Gerichtes Taufers. Das Einzugsgebiet der
Ordination umfasste das gesamte Tauferer Ahrntal, ein Seitental
des tirolischen Pustertals. 1847 zählte das Gericht
10.315 Einwohner.
Außer einem anderen Arzt im Hauptort Sand, der auch
die Funktion des Gerichtsarztes erfüllte, und einem
Wundarzt (einem handwerklich ausgebildeten Chirurgen) in
Steinhaus am Talschluss gab es keine andere legal anerkannte ärztliche
Anlaufstelle im ganzen Tal. Die nächstgelegene Apotheke
befand sich in Bruneck.
Die Tätigkeit des Franz v. Ottenthal kann sehr gut verfolgt
werden, da es den Mitarbeitern des Landesarchivs 1998 gelang,
eine bis dato unbekannte Quelle ausfindig zu machen. In Ottenthals
Behausung in Sand in Taufers, die heute noch im Besitz der
Familie ist, fand sich auf dem Dachboden eine Anzahl von
Heften – einige davon mit der Aufschrift “Historiae
Morboum” - im Kanzleiformat, von unterschiedlicher
Stärke, in die der Arzt Tag für Tag, Jahr für
Jahr, in lateinischer Sprache seine Beobachtungen über
seine Patienten notierte. Die einzelnen Eintragungen gleichen
in ihrer Struktur den Datensätzen einer Datenbank: das
Grundprinzip ist ganz ähnlich, nämlich das der
laufenden, nur einmal (im Jahr) vergebenen Nummer. Jede Eintragung
besteht, grob gesehen, aus sechs Feldern, belegt mit Angaben
zu Name, Alter Geschlecht und Wohnort des Patienten, Datum
der Visite, Protokoll des Arzt-Patienten Gesprächs mit
Niederschrift der vom Patienten selbst und vom Arzt gemachten
Beobachtungen, schließlich Therapie und Honorar des
Arztes bzw. Erlös aus dem Verkauf der Medikamente aus
der eigenen Hausapotheke. Auf jeder Seite der Krankenjournale
finden sich durchschnittlich vier dieser Eintragungen, insgesamt
sind es 85.000 Eintragungen für die über 50 Jahre
von Ottenthals Tätigkeit. Da unter jeder laufenden Nummer
aber mehrere Visiten eingetragen sind, ist die tatsächliche
Anzahl der Visiten bedeutend größer: eine genaue
Zahl kann erst nach Abschluss der Projektarbeiten gegeben
werden, ebenso wie erst dann die tatsächliche Anzahl
von Ottenthals Patienten, deren Krankengeschichte oft über
mehrere Jahre mitverfolgt werden kann, eruiert werden kann.
Auch die soziale Dimension von Ottenthals Klientel wird erst
nach Abschluss der Projektarbeiten fassbar sein, wenn die
Fragen nach Mobilität, Heiratsverhalten, Natalität,
Verwandschaftsstrukturen etc., ev. unter Beiziehung von anderer
Parallelüberlieferung (so z. B. die Kirchenbücher
der Pfarreien, die Verfachbücher der Gerichte) beantwortet
werden können. Die „Historiae Morborum“,
dokumentieren erstmals in dieser Breite und Dichte den Gesundheitszustand
einer fast ausschließlich ländlichen Bevölkerung
in einem geographisch und wirtschaftlich durch ungünstige
Bedingungen (Berge, extreme klimatische Verhältnisse,
lange, harte Winter, mangelhafte Infrastrukturen und Verbindungen)
geprägten Gebiet, während die bisherige Forschungsliteratur
sich in erster Linie mit der urbanen Situation befasst hat
und mit ihren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gänzlich
anders gelagerten Verhältnissen, was Umweltbelastung,
Ansteckungsgefahr und Sterblichkeitsmuster betrifft. Die
medizinhistorische Erfassung der gesundheitlichen Zustände
auf dem Lande steckt im Vergleich zur Erforschung der urbanen
Verhältnisse weitgehend in den Anfängen. Dies hängt
in erster Linie mit der ansonsten schlechten Überlieferungssituation ähnlich
gearteter Quellen zusammen: die Ottenthalsche Art der „Patientenbuchführung“ war
sicher keine Ausnahmeerscheinung sondern ein durchaus gebräuchliches
Modell. Insofern scheint der Nachlass Ottenthal einen glücklichen
Ausnahmefall darzustellen. Für Taufers, aber auch über
diesen begrenzten Raum hinaus, für das gesamte inneralpine
Gebiet kann er wichtiges Quellenmaterial für Grundlagenforschung
in vielen Bereichen bieten.
Im Dezember 2001 wurde das INTERREG-Projekt durch den EU-Lenkungsausschuss
genehmigt. Das Ziel dieses Projektes ist die Erstellung einer
medizinhistorischen Datenbank auf der Grundlage der Krankengeschichten
aus dem Zeitraum 1850-1900 als Datenpool für folgende
(künftige) Schwerpunktforschungen: Medikalisierung des
alpinen Raumes; Ausprägung, Entwicklung und Vererbung
bestimmter Krankheitsbilder; Auswirkungen von Ernährung,
Umwelt und Klima auf den regionalen Gesundheitsstatus; Therapieformen
und pharmazeutische Interventionen; demographische Entwicklungsmuster
(Natalität, Nuptialität, Mortalität, Migrationsprozesse);
soziale Strukturen im familiären und lokalen Umfeld.
Partner des Projektes sind das Südtiroler Landesarchiv
und das Institut für Geschichte der Universität
Innsbruck, die Leitung des Projektes liegt beim Südtiroler
Landesarchiv Bozen, A.-Diaz-Strasse 8, I-39100 und beim Amt
der Tiroler Landesregierung, Kulturabteilung, Sillgasse 8,
A-6020 Innsbruck und dem Institut für Geschichte der
Universität Innsbruck, Innrain 52, A-6020 Innsbruck.
|